Philipp Frank

Das Kausalgesetz und seine Grenzen

 

VI. Kausalität und Zufall
1. Ein Ereignis kann nur in bezug auf ein bestimmtes kausales Gesetz "Zufall" heißen.

Im gewöhnlichen Leben wird das Wort "Zufall" meist für ein Ereignis verwendet, das eingetreten ist, ohne daß man es beabsichtigt hat. Wenn man z.B. sagt "ich habe heute zufällig den N.N. getroffen", so will man damit sagen "ich habe ihn getroffen, ohne daß ich oder er dies beabsichtigt hätten". Hingegen wird das Wort nicht verwendet, wenn ein Ereignis eintritt, das wir ausdrücklich vermeiden wollten. Wenn jemand zum Beispiel beim Eislaufen während der Ausführung einer komplizierten Figur umfällt, so wird er kaum sagen: "ich bin zufällig umgefallen", wohl wird er sich aber so ausdrücken, wenn er über ein nichtgesehendes Hindernis stürzt. Wenn ein Projektil abgeschossen wird und das Ziel verfehlt, weil ein plötzlicher Windstoß dazwischengekommen ist, so sagen wir, daß ein Zufall den Fehlschuß verursacht hat.

Wenn wir uns weniger anthropomorph, ohne Einführung psychologischer Begriffe ausdrücken wollen, so müssen wir sagen: ein Zufall ist ein Ereignis, das eintritt, obwohl es nach dem verwendeten Kausalgesetz nicht vorhergesehen werden konnte. Wenn das Geschoß nicht dorthin fällt, wo es nach dem verwendeten Wurfgesetz zu erwarten war, sprechen wir von einem Zufallstreffer. Damit ist aber nicht gesagt, daß es überhaupt unmöglich gewesen wäre, das Erreichen des Zieles vorherzusagen. Nur wäre diese Vorhersage nicht mit Hilfe der Wurfgesetze, sondern vielleicht aus den Gesetzen der Luftströmungen vorzunehmen gewesen. Es gibt also nur einen Zufall "in Bezug auf ein bestimmtes Kausalgesetz". Ein Zufall schlechthin, also gewissermaßen ein absoluter Zufall wäre dann ein Ereignis, das in bezug auf alle Kausalgesetze ein Zufall ist, das also nirgends als Glied eines Kausalgesetzes auftritt.

Die Aussage aber, daß ein bestimmtes Ereignis A n keinem Kausalgesetzt als Glied auftritt, hätte offenbar nur dann einen Sinn, wenn man ein Verzeichnis sämtlicher Kausalgesetze besäße. Dann würde man daraus ersehen, ob es Ereignisse gibt, die in diesem Verzeichnis gar nicht vorkommen; diese wären dann absolut zufällige Ereignisse. Diese sind also nur innerhalb eines sämtliche Naturgesetze umfassenden Systems definiert. Nur die Annahme einer höheren, alles umfassenden Intelligenz könnte daher dem Begriff des absoluten Zufalls einen wirklichen Sinn geben. Für den forschenden Menschengeist ist aber nur der folgende Tatbestand feststellbar: es treten manchmal Ereignisse auf, die in den Kausalgesetzen, die wir anzuwenden pflegen, nicht vorkommen.

Man kann nun zwei Hypothesen machen, wenn wir das Wort "Hypothese" in dem Sinn anwenden, wie es in der exakten Wissenschaft brauchbar ist, also zwei Annahmen über unsere kommenden Erlebnisse. Erstens: das Ereignis A ist kein "absolut zufälliges", d.h. wir werden noch einmal ein Kausalgesetz kennenlernen, in dem A als Glied auftritt; diese Annahme kann einmal von der Erfahrung bestätigt werden. Die entgegengesetze aber "das Ereignis A ist absolut zufällig", d.h. A wird niemals als Glied ein Kausalkette auftreten, ist grundsätzlich keiner Prüfung durch die Erfahrung zugänglich; denn wir können die Grenzen dessen, was wir noch ein "Gesetz" nennen, niemals im vorhinein genau abstecken. Wir können von "Gesetz" nur dann sinnvoll sprechen, wenn die Art des Gesetzes irgendwie näher bezeichnet wird.

 

2. "Zufälligkeit eines Ereignisses" sagt etwas negatives aus

"Gesetzmäßigkeit" und "Gesetzlosigkeit" sind nur dann kontradiktorische Gegensätze, wenn man unter dem letzteren Ausdruck die Unmöglichkeit versteht, mit Gesetzen einer bestimmten Art, z.B. der Newtonschen Mechanik, bei bestimmten vorhandenen Massen für die Darstellung der fraglichen Ereignisse auszukommen. Dann würde aber "absoluter Zufall" nur bedeuten, daß das Ereignis A nicht Glied eines Kausalgesetzes von der Art sein kann, daß es sich aus Anfangslage und Anfangsgeschwindigkeit gegebener Massen nach der Newtonschen Mechanik vorhersagen ließe. So ist der Begriff noch halbwegs faßbar, obwohl streng genommen eine wirkliche Verifikation seines Zutreffens auch hier kaum möglich ist.

Wir vergleichen nun die allgemeineren Hypothesen: "Es gibt keinen absoluten Zufall" und "es gibt absolute Zufälle". Natürlich ist der empirische Sinn des ersten Satzes noch immer viel reicher als der des zweiten; denn im ersten Fall drücken wir die Hoffnung aus, alle Ereignisse allmählich durch eine bestimmte Art von gesetzen ordnen zu können. Im zweiten Fall aber wird behauptet, daß es eine solche Gesetzmäßigkeit, der alle Ereignisse unterworfen sind, nicht gibt. Damit ist aber über wirkliche Erlebnisse nichts ausgesagt, weil der Begriff der Gesetzlosigkeit nicht als eine Aussage über Erlebnisse ausdrückbar ist.

Der Begriff des Zufalls in dem bisher betrachteten Sinn hat also nur einen negativen Inhalt, und wir müssen zu einer ganz anderen Klasse von Erlebnissen übergehen, um damit den Begriff eines Zufalls im positiven Sinn so fassen zu können, daß mit seiner Hilfe Aussagen über die Welt unserer wirklichen Erlebnisse gemacht werden können.

 

VIII. Kausalität, Zufall oder Plan in der Weltentwicklung?
9. Die "Unwahrscheinlichkeit" regelmäßiger Figuren.

Der Begriff von der Wahrscheinlichkeit eines Zustandes hat durch die unklare Fassung, in welcher er oft auftritt, Anlaß zu merkwürdigen Spekulationen gegeben. Wenn wir in einer Wüste auf dem Boden eine Anhäufung von Sand antreffen, welche die Form eines regelmäßigen Fünfeckes hat, so wird man schwer glauben, daß diese Anhäufung durch das Spiel des Windes mit dem Sande und die gegenseitigen Stöße der Sandteilchen entstanden ist. Man sagt, es sei nicht "wahrscheinlich", daß eine solche Anhäufung durch "Zufall" entstanden ist, sondern man müsse annehmen, daß hier das Ergebnis einer Tätigkeit von Menschen vorliegt oder eine bestimmte Gesetzmäßigkeit in der Natur.

Man sieht ja ohne jede Rechnung sofort ein, daß nur ein sehr kleiner Bruchteil aller möglichen Verteilungen jene regelmäßige Gestalt ergeben. Und nur diese Behauptung wollen wir ausdrücken, wenn wir sagen, daß ein Zustandekommen eines Fünfeckes durch Zufall "unwahrscheinlich" ist.

Dieses Ergebnis erhalte ich aber nur dadurch, daß ich zwischen den einzelnen unregelmäßigen Figuren keinen Unterschied mache. Ich sage "eine unregelmäßige Figur" und meine damit eine "Figur von beliebiger Gestalt". Nun gibt es natürlich unvergleichlich viel mehr Arten der Verteilung von Sandkörnern, die eine unregelmäßige als eine regelmäßige Figur bilden, weil es viel mehr unregelmäßige als regelmäßige Figuren gibt. In diesem Sinne kann ich sagen: Eine unregelmäßige Figur ist weit wahrscheinlicher als eine regelmäßige; aber jede einzelne bestimmte unregelmäßige Figur ist ebenso unwahrscheinlich wie eine bestimmte regelmäßige.

Die ganze Unwahrscheinlichkeit der regelmäßigen Figur liegt darin, daß wir ihr unser Interesse individuell zuwenden, während uns die Abweichungen der unregelmäßigen Figuren voneinander nicht interessieren. Wenn wir uns aber z.B. für eine bestimmte unregelmäßige Figur interessieren, die etwa an den Gesichtsausdruck eines guten Bekannten sehr stark erinnert, werden wir ihr Zustandekommen durch Zufall sofort als unwahrscheinlich empfinden. Immer dann, wenn wir einem einzelnen Individuum ein besonderes Interesse zuwenden und es nicht mit anderen vermischen wollen, können wir nicht zugeben, daß es durch Zufall entstanden ist.

Derartige Gedankengänge spielen in der hergebrachten "Naturphilosophie" eine große Rolle. Man sagt etwa: Wie ein regelmäßiges Fünfeck nicht durch das "blnde Spiel" der Sandteilchen entstanden sein kann, so ist es noch unwahrscheinlicher, daß die komplizierten, zweckmäßig gegliederten Gestalten der lebenden Organismen sich durch das "blinde Spiel der Kräfte" aus den Atomen der leblosen Materie gebildet haben. Man müsse in diesen höheren Gestalten die Wirksamkeit von Faktoren erkennen, die ähnlich dem Eingreifen menschlicher Wesen und nur mit höherer Intelligenz ausgestattet, aus den Atomen die Organismen planmäßig gebildet haben wie der Mensch das regelmäßige Fünfeck aus dem Sand der Wüste.

 

Philipp Frank: Das Kausalgesetz und seine Grenzen. Wien: Verlag von Julius Springer 1932.