Anton Kuh: Angst vor dem Radio

(1930)

Ich fürchte mich vor dem Radio.
Humanistisch gesinnte Menschen (im Gegensatz zu den Elektrotechnikern) befreunden sich schwer mit einer neuen Erfindung. Ihre Phantasie - ja, staune nur darüber, Bruder Bastler! - ihre Phantasie, wiewohl doch gerade für Dichtungskraft und Blitzesschnelle bekannt - kommt nicht so rasch mit. Lange Zeit steht das technisch Neue in ihrem Dasein wie ein trojanisches Pferd, das die Götter zur Versuchung ins Leben hineinpraktiziert haben. Sie stehen am Anfang eines Wunders, wenn die anderen es bereits fingerkundig bedienen; sie haben die vermaledeite Gewohnheit, nach dem Sinn zu fragen, bevor sie über Zwecke disponieren. Oder in einer anderen, etwas unheimlicheren Formel: sie denken zuerst an den Weltuntergang, und dann erst an die Menschheitsentwicklung.
Doch auf das Thema "Radio" angewandt: Inwiefern dräut hier ein trojanisches Pferd? Was haben Götter mit Ingenieuren zu tun? Wo mag beim Senden und Empfangen die Teufelslockung liegen?
Mein Aberglaube erwidert: Ich hinterlasse nicht gerne Spuren. Mag es mir noch so wünscheswert scheinen, den "Hamlet" geschrieben oder die Perser bei Marathom besiegt zu haben, also in dieser oder jener Form eine Lichtspur hinter mir herzuziehen - so graviere ich mich mit meinen irdischen Pfoten ungern ins Irdische ein. Es gibt Menschen, die ohne Schau und Zagen ihre Namen mit Taschenmessern in die Schulbank ritzen, Bäume in Denkmäler stattgehabter Liebesirrtümer verwandeln, Parkbänken ihre Unterschriften hinterlassen, sich in Gästebücher eintragen, ja sogar, wenn der politische Affekt hinzutritt, auf der Wand einer Bedürfnisanstalt verewigen. Ich bewundere diese Leute; ihre Angstlosigkeit macht mir Neid. Fürchten sie nicht, an Ort und Stelle ihrer Einkerbung oder Niederschrift ihre Seele als Pfand gelassen zu haben? Beunruhigt sie nicht ein ängstliches Vorggefühl, alle diese Unterschriften und sonstigen Daseinstintenspuren könnten als Zeugen ihres unreinen Erdenwandels haften?...

In meinem Hotelzimmer stand eines Tages der böhmische Ingenieurs P., eine Figur aus dem Meyrinkschen Grenzland von Posse und Nachtmar, voll Wahnideen, die zwischen Dienstbotenraum und Wissenschaft pendeln. Er trug seine neue Hypothese vor: das Radio als Lebenszerstörung. Der Mensch, sagte er, sei selber Antenne; so stehe es für den, der die Legende der Jericho-Trompeten zu deuten wisse, schon in der Heiligen Schrift geschrieben. Und er folgerte in einem Treppauf-Treppab von Fachbegriffen, die meinem Ohr chinesisch klangen, daß die potenzierte Wellenverstärkung am Ende die Zertrümmerung jener lebenden Antenne "Mensch" bewirken müsse. Es war Pallenberg-Physik. Aber sie überzeugte mich jählings. Echo meines Aberglaubens!... Nun begriff ich alles: warum die Musik aus Stuttgart wie Geistergewinsel durch den Kopfhörer sickert; warum die Spuck-, Dröhn, Schlürf-, Dampf-, Stick- und Rassel-Stimmen wie totlebendig aus dem Lautsprecher schallen; warum die Luft in einem radioerfüllten Gemach wie überanstrengt und künstlich aufgepumpt wirkt. Die Sprache des platten Lebens, bisher in die Enge verweht, jagt wie ein Orkan über den Erdball; Eintagsfliegen sausen wie Riesenbrummer aeroplanknatternd über unseren Häuptern; das Wellenreich des Universums wurde zu einer einzigen Schulbank und Kritzelwand für die phonetische Spur des kleinen Erdenwichts. Die Menschheit hat den Weltraum zu ihrem Grammophon erniedrigt. Was soll da werden? ... Geschriebenes und Gedrucktes, ja selbst Konterfeites zerbröckelt zu unserem Trost; was heute Alexandrinische Bibliothek heißt, ist morgen ein papier spécial. Aber die Stimme ist lebendige Energie. Sie kann nicht sterben, sie verstärkt sich im Weltall, sie schwillt und kreist und tobt und -?

Die Begünstigung und Beschleunigung des Endes liegt bis auf weiteres in den Händen der Funkdramaturgen. Sie sind die Mittler zwischen den Eintagsfliegen und der Ewigkeit; ihre Wochenprogramme bauen sich auf den Grundsatz: den Tag in die Unendlichkeit hineinreden zu lassen und, verhüte der Himmel!, nicht umgekehrt. Zu diesem Behufe laufen sie - wenn der Sendeort gar Berlin heißt - mit dem Zeitungspapier um die Wette; schöpfen mit hitziger Hand aus dem Kessel der Zeit immer das neueste Geräusch; kaufen dem Tag rasch seine Fronten ab; salvieren sich durch Kontrastimmen, die keine sind. Und betäuben mit der Flut von Rede-Papier - benannt als: Reportage, Improvisation, Diskussion - das arme Ohr der Menschheit.
Aber indem sie das Radio so zu einer tönenden Schwester der Zeitung machen, merken sie gar nicht, daß sie seine Erfindung unnütz werden lassen. (Ähnlich wie die Filmleute, die aus der Leinwand ein Theater machen.) Sie vergessen damit ganz den Sinn der Erfindung. Dieser Sinn ist: die Entdeckung der Menschstimme. So wie der Sinn des Films die Entdeckung des Menschengesichts war - oder vielmehr: hätte sein sollen. Aber in der gleichen Art eben, wie dieser seiner Bestimmung untreu wurde, hat das Radio die seine vergessen; und daher hier wie dort das Mißverhältniss zwischen Apparatur und Geist, die niederdrückende Erscheinung, welches Minimum an Wirklichkeit sich da eines Maximums an Technik bedient. Der Endeffekt des Films: daß der riesengroße Kopf eines Eintänzers (oder eines Mannequins) die Menschheit bis zum Verenden anäugt. Effekt des Radios: das nämliche auf akustische Art. Und beide hätten sich, statt zunächst das sogenannte "Reich der Kunst" zu annektieren, bloß auf das beschränken zu brauchen, was ihnen lag, um sich zu erfüllen.
Gesicht und Geist ist dasselbe; Tonfall und Geist desgleichen. So wie Voltaire aussah, konnte nur der Geist aussehen; so wie Mirabeaus Rede klang, konnte nur der Geist klingen. Ihn mit tausend- und millionenfacher Verstärkung in den Äther zu senden hätte Sinn. Aber das Radio achtet so wenig au die Stimmen wie der Film auf die Physiognomien; es wählt nicht zwischen Tonfällen, sondern zwischen Namen und Themen. Unbedenklich und in allen Variationen sendet es den Tonfall der Gemeinheit ins Universum aus ... und statt daß, sei es aus eines Schauspielers Mund, der Erdgeist redet, schwingt sich, spuckend, zischelnd, speichelnd, fettend, der phonetische Dreikäsehoch auf unendliche Wellen.

Vom Berge Sinai herab darf nur Gottes Stimme schallen.

Aus: Anton Kuh: Luftlinien. (Lizenzausgabe des Löcker Verlages Wien) Berlin: Volk und Welt 1981.